Aus der Sicht einer Tasche
Eine unserer Abonnenten hat uns seine Geschichte empfohlen, die wir mit euch teilen können. Vielen Dank noch einmal, wir hoffen dass die kleine Geschichte euch gefällt!
Mein Weg fing in Syrien, in Tadmur, an.
Mein Besitzer, Selim, nahm mich mitten in der Nacht aus der Schrank und packte eine Menge Lebensmittel in mich hinein: Zwieback, Schokolade, Waffeln und er verstaute in einer meiner Taschen sein ganzes, in den letzten Monaten, angespartes Geld. Er legte noch ein paar Kleider, um sich umziehen zu können, seinen Regenmantel und ein Bild seiner Mutter in mich. So ging er zur palmyrischen Löwenstatue, wo er seine Freunde traf. Ich wusste nicht wohin, oder warum wir gehen. Ich wusste nur das, was ich sah, während er mich auf seinem Rücken durch die Stadt trug: ISIS hielt die Menschen unter Terror, sie töteten Unschuldige, sind verantwortlich für den Tod von sowohl Müttern als auch Kindern. Der Kampf ums Überleben und gegen ihre eigenen Landsleute entwickelte sich zu einem alltäglichen Bild der Bürger. Niemand wagte den Aufstand, denn, falls sie es getan hätten, wäre auch nur die Idee einer Rebellion das Ende für sie gewesen.
Wie es sich später herausstellte, wussten sie noch nicht, wohin sie gehen; nur Europa stand als Ziel fest. Sie wussten, wenn sie es soweit schafften, dann sind sie schon in größerer Sicherheit, als in ihrer Heimat oder dessen Nachbarländern. Da sie nur wenig Geld hatten, und dieses für Essen ausgeben mussten, mussten sie den harten, oftmals lebensgefährlichen Weg zu Fuß zurücklegen. Oft kam es vor, dass ich im Dreck lag, oder wegen des starken Reges in den Schlamm fiel. In der Hitze wurde ich mehrmals durch Selims Schweiß klitschnass und oft rieb ich so hart an Selims Schulter, dass sich dort eine Wunde entwickelte. Mein Inhalt wurde mit der Zeit immer leerer und das zusammengesparte Geld reichte auch nicht für länger als zwei Wochen. Manchmal begegneten wir Terroristen, viele Freunde von Selim wurden leider ermordet. Während einer Attacke in Aleppo schoss eine Kugel sogar ein Loch in meinen Stoff.
Nach anderthalb Monaten erreichten wir Griechenland, aber nur Selim und einer seiner Freunde waren noch am Leben. Ihnen ging es außerdem sehr schlecht: an der Grenze steckte sich der 25-jährige Junge mit einer Lungenentzündung an, was seine Situation stätig verschlechtern ließ. Nach ein paar Tagen entwickelte sich der Husten in Erstickungsanfälle. Ich war auch nicht in meiner Topform, mein Stoff hatte sich teilweise schon aufgelöst und eine meiner Taschen war nicht mehr zu gebrauchen. In Griechenland kümmerte man sich nicht um uns, wir bekamen jedoch die Möglichkeit das Land zu passieren, nachdem wir die Nachricht von Angela Merkel erhielten, dass sie uns aufnimmt. Somit stand das Ziel von Selim und seinem Freund fest: Auf nach Deutschland!
Während es in Griechenland so einfach war, war es in Serbien umso härter. Sie waren abweisend und arrogant gegenüber uns Flüchtlingen wegen unserer Herkunft und Religion. Auf mich wurde sogar getreten, als Selim mich einmal auf dem Boden gelegt hatte. Die eine Schulterklappe zerriss sogar. Ich war schon fast unbenutzbar, ich verstand selbst auch nicht, warum er mich nicht wegwarf. Die Stimmung in den Lagern erreichte auch kritische Zustande: Messerstechereien und Diebstahl wurden häufiger. In einer Nacht wurde mein gesamter Inhalt gestohlen, ich war fast vollkommen leer, nur ein Foto blieb mir. Selim umarmte mich fest, damit ich nicht gestohlen wurde, und dann war mir klar: ich war der einzige, der ihn an sein ehemaliges Leben, an seine Familie, an seine Heimat… an sein Leben band. Wir sahen sogar einige Terroristen, aber niemand wagte sie zu verraten, denn wir waren um unser Leben besorgt. Frauen und Kinder schliefen vor den Zelten, während ihre Männer in den Zelten waren. Darüber wunderten sich die Europäer, in Syrien war es jedoch normal.
Ein paar Kilometer vor der Grenze wurde Selims Krankheit besonders schlimm, wahrscheinlich weil er seit Tagen nichts gegessen hatte und seit unserer Abfahrt nicht richtig ausschlafen konnte. Dann wurde ich gefunden: ich, eine dreckige, zerrissene Tasche von einem alten Mann, der sich trotz meines Äußeren über mich freute. Und so führte ich meinen Weg mit ihm fort. Als wir Röszke erreichten, hatten die Ungaren den Zaun schon gebaut. Einige wollten nicht in der Reihe warten und fingen an ungeduldig zu werden. Dann verstand ich, warum die Europäer uns nicht freundlich empfangen: sie sahen nur diejenigen, die gewaltbereit aus ihrer Heimat kamen, nicht diejenigen, deren Familien ermordet wurden, die Frieden suchten, oder die, die elternlos waren. So wie Selim oder der alte Mann.
Letztendlich schafften wir ohne Gewalt die Grenze zu überqueren und in Ungarn wurden wir in Bussen nach Österreich weitergebracht. Im Bus warf mich der alte Mann zwischen die anderen Taschen und ich bemerkte, dass nicht nur unser Weg so anstrengend war. Eine Tasche bestand fast nur noch aus einem kleinen Stück Stoff, eine andere, die über das Meer nach Europa kam, stank wegen der Nässe. Die meisten Taschen waren ähnlich wie ich, fast leer, zerrissen und an allen konnte man die Spuren der Vergangenheit sehen.
Nach ein paar Tagen kamen wir in Deutschland an. Hier bewarb sich der alte Mann gemeinsam mit seinen Schicksalsgefährten um Asyl und bekam eine Unterkunft in den Häusern der Flüchtlinge. Und was geschah mit uns Taschen? Wie jede loyale Tasche, blieben wir auch bei unseren Besitzern. Es wäre möglich, dass ich gerade an einem Kleiderhaken des Flüchtlingsheims hänge, während der alte Mann schläft und sich von seinen Strapazen erholt. Ich wurde gereinigt und zusammengeflickt und sehe wieder aus wie neu. Ich bin doch anders, als jede andere Tasche, da ich ein Teil eines sozialen Ereignisses bin, welches in einigen Jahren auch seinen Weg in die Geschichtsbücher finden wird. Vielleicht werde nicht konkret ich darin stehen, aber ich war eine derjenigen, über die geschrieben werden wird.